Kolonialismus: Ewige Qualen?

 

Tantalus Butte – ein Wahrzeichen in Carmacks, Yukon. Es ist nach einer mythologischen Figur aus dem antiken Griechenland benannt.

Tantalos war vor allem für seine ewige Bestrafung bekannt. Er musste in einem Wasserbecken unter einem Obstbaum mit niedrigen Zweigen stehen, wobei die Früchte sich seinem Zugriff immer entzogen und das Wasser immer zurückging, bevor er etwas trinken konnte.

Was für ein Omen.

Historisch gesehen war es Frederick Schwatka, der “In A Summer in Alaska” (1893) beschreibt:

In der Gegend um die Mündung des Flusses Nordenskiöld war direkt vor unserem Floß nicht weniger als sieben Mal eine auffällige kahle Stelle zu sehen, und zwar auf ebenso vielen verschiedenen Flussabschnitten. Ich nannte ihn Tantalus Butte und war froh genug, ihn aus dem Blickfeld verschwinden zu sehen. 

Für Stammesangehörige der Northern Tutchone war er als Gun Tthi bekannt, was soviel wie “Wurmberg” bedeutet. Sie glaubten, dass ein riesiger Wurm mit Augen wie die Sonne auf dem Hügel lebte, und wenn sie beim Vorbeifahren auf dem Fluss zu viel Lärm machten, würde der Wurm einen großen Wind verursachen, der ihr Boot umkippen würde.

Und die Boote in Carmacks sind immer noch durcheinander. Viele der Menschen stehen in einem Becken mit klarem Wasser unter einem reichlich gefüllten Obstbaum mit niedrigen Ästen – und das gute Leben scheint nicht in Reichweite zu sein.

Der Junge, den ich regelmässig mit dem Schulbus von der benachbarten Einfahrt abholte: Er ist des vorsätzlichen Mordes angeklagt. Das Mädchen, das mir als Busfahrer mit einer Mischung aus Verachtung und Achtung begegnete – immer gut für ein Wortgefecht und dankbar für den zusätzlichen Service, wenn sie zu spät kam – starb als junge Frau auf einem Rettungsflug unter fragwürdigen Umständen. Ein Mann in meinem Alter, Sohn des Stammesältesten, der mich in den Stamm adoptieren wollte, verschwand wegen einer Flasche Schnaps: er wurde erstochen und im mächtigen Yukon River entsorgt.

Als ich als Teil der Ehrengarde bei der Zeremonie zur Unterzeichnung des Selbstverwaltungsabkommens zwischen der britischen Krone und der Little Salmon Carmacks First Nation stand – gekleidet in einen nagelneuen gelben Overall eines EFF (freiwilliger Waldbrandbekämpfer), der mir schließlich meinen indianischen Namen Tsüne Cho (“Bibo – Big Bird”) gab – hatte ich den Eindruck, dass die Gemeinde Carmacks auf dem Weg der Heilung war. Die Menschen machten sich auf eine gemeinsame Reise für eine bessere Zukunft (“Heute gemeinsam für unsere Kinder von morgen”, wie 1973 die Forderung nach Selbstverwaltung der Indianerstämme im Yukon betitelt war).

Der Schwerpunkt lag auf der Gemeindeentwicklung, auf der Aufbau der Selbstverwaltung, auf der Übernahme der Kontrolle über das Leben der indigenen Menschen nach einer langen Zeit der Kolonialisierung und der Bevormundung durch die staatlichen Behörden. Ich hatte den Eindruck, dass die Würmer des Alkohols und der Drogen und der Gewalt wieder in die brennenden Minenschächte von Coal Mine Hill und Tantalus Butte zurück krochen.

Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, und aus der Ferne, spüre ich, dass der Fluch der ewigen Qualen für das Volk der Northern Tutchone von Carmacks noch nicht gebrochen ist. Es ist traurig, von gewaltsamen Todesfällen, Kriminalität und mangelnder Verbesserung der interkulturellen Beziehungen zwischen den Vertretern des britischen Empire, der Mainstream-Kultur und der indigenen Bevölkerung zu lesen. Als Teil meiner eigenen Forschung über die Schönheit und die Herausforderungen der Arbeit mit indigenen Gemeinden bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es großer Anstrengungen bedarf, um mit den kolonialen Hinterlassenschaften und der genozidalen Politik, die die Beziehung zwischen den “verdammten Weißen” und den “betrunkenen Indianern” geprägt hat, Frieden zu schließen.

Wenn ich die Berichterstattung über die jüngsten rechtsmedizinischen Untersuchungen  und die Strafgerichtsverfahren lese, an denen Menschen beteiligt waren, die ich als Nachbarn in einer kleinen Gemeinde mit grossem Potenzial an den Ufern des Yukon und des Nordenskjold Rivers kennen gelernt habe, spüre ich, dass der Krieg noch immer andauert: Das Gesundheitspersonal wird beschuldigt, nicht das (medizinisch) Richtige zu tun; die Gemeindemitglieder üben wenig Kontrolle über ihren weniger-als-gesundheitsfördernden Lebensstil aus, erwarten aber vom kolonialen Gesundheitssystem ein magisches Heilmittel für die resultierenden Leiden; die Regierung des Yukon hat noch nicht einmal den Erhalt der Empfehlungen aus meiner eigenen Forschung für kleine politische Änderungen bestätigt, die die interkulturelle Beziehung verbessern und die kulturelle Sicherheit bei der Arbeit mit indigenen Gemeinden erhöhen könnten.

Es spielt keine Rolle, ob der markante Hügel in der Nähe von Carmacks mit seinem kolonialen oder seinem indigenen Namen bezeichnet wird: Beide Namen stehen für die Zwangslage einer Gemeinschaft, die sich auf vielen Ebenen nach Heilung sehnt um damit die Flüche des kolonialen Erbes zu brechen.

weiterführende Literatur:

Arnold, O. F. (2012). Reconsidering the “NO SHOW” Stamp: Increasing Cultural Safety by Making Peace with a Colonial Legacy. Northern Review, (36), 77-96. Retrieved from https://thenorthernreview.ca/index.php/nr/article/view/259

Arnold, O. F., & Bruce, A. (2005). Nursing practice with Aboriginal communities: Expanding worldviews. Nursing Science Quarterly, 18(3), 259–263. https://doi.org/10.1177/0894318405277632

Arnold, O. F. (2005). Nursing with indigenous communities: The question of membership. Retrieved from https://ofradix.net/2012/11/21/nursing-with-indigenous-communities-the-question-of-membership/

Arnold, O. F. (2004). Working in Aboriginal communities: What kind of health are we promoting? Retrieved from https://ofradix.net/2017/09/14/working-in-aboriginal-communities-what-kind-of-health-are-we-promoting/

für Zeitungsartikel der Yukon News zum Geschehen in Carmacks (gute und andere Neuigkeiten):

https://www.yukon-news.com/search/?cx=015619971846971042401%3Aufh1ywe-cms&ie=UTF-8&q=carmacks

Quelle für die historischen Hinweise zum Tantalus Butte: http://www.explorenorth.com/library/mining/tantaluscoal.html

2 thoughts on “Kolonialismus: Ewige Qualen?

  1. Lieber Othmar,

    dieser Text hat mich sehr bewegt. Ähnliches passiert immer noch viel zu oft.
    Und trotzdem dürfen wir einfach nicht aufgeben, nicht die Geduld miteinander verlieren. Der Umstand dass so viele Menschen keine Chancen bekommen, sollte uns nicht daran hindern in unserem Umfeld Menschen eine Chance zu geben.
    Der Umstand dass so viele Menschen unter schweren Lebensumständen auf die schiefe Bahn geraten oder sich einfach aufgeben, sollte uns nicht dazu verleiten unsererseits Menschen verloren zu geben.
    Wir können immer nur geduldig und voll Vertrauen auf das Potential, das in einem jeden Menschen steckt, den Menschen in unserem eigenen Umfeld begegnen und da wo wir sind tun was wir können.
    Auch wenn es gleich einem Tropfen auf einem heissen Stein zu sein scheint, was wir tun können, für die Menschen für die wir da sein können macht es einen grossen Unterschied. Es liegt bei jedem einzelnen, anzufangen einen Unterschied zu machen, und nicht erst zu warten bis andere damit anfangen.

    Danke für diesen Text!
    Anne Lotte.

    1. Anne Lotte, danke für deine Gedanken. Meine Reflexionen über die gelebten Erfahrungen im Yukon waren angestossen durch eine aktuelle Operninszenierung in Zürich: auch diese war sehr dunkel – jedoch nicht hoffnungslos.

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