Betrachtung zur Fastenzeit #2

Passionszyklus (Judaskuss), Kirche Tenna, GR, um 1408, unbekannter Künstler
Passionszyklus (Judaskuss), Kirche Tenna, GR, um 1408, unbekannter Künstler

Der Bruderkuss, ausgedrückt in den Augen mit einer offensichtlichen Innigkeit; daneben ein sich abwendender Beistehender. Die farbige Gruppe der Hauptfiguren ist im Hintergrund umgeben von einer übermächtigen Gruppe – kalt, bedrängend, bedrohlich. 

  • Benutze ich die Freundschaft und Vertrautheit zu anderen auch einfach zu meinem eigennützigen Vorteil?
  • Was gibt mir die Motivation mit Gewalt zu reagieren, obwohl ich bewusst einen Weg gewählt habe der zum Frieden und Verständnis führen soll?
  • Wo fühle ich mich im Leben bedrängt und bedroht durch Kräfte die ich nicht beeinflussen kann, durch Kräfte die recht unscheinbar im Hintergrund agieren?
  • Wie oft verletze ich den Schwächsten derer von denen ich mich bedroht oder bedrängt fühle?
  • Wie schaffe ich es in Anbetracht offensichtlichen Enttäuschungen meinen Mitmenschen weiterhin mit bedingungsloser Liebe zu begegnen?

Diese Szene aus dem Passionszyklus in der Kirche von Tenna zeigt wie Judas zu Jesus hingeht und ihn mit einem Kuss begrüsst. Jesus ist ihm voll zugewandt. Auf der linken Seite sehen wir einen sich abwendenden Petrus, der sein Schwert wieder einsteckt, nachdem er einem Mitglied der drängenden Masse im Hintergrund das Ohr abgeschlagen hat. Petrus wehrt sich nicht nur mit dem Schwert, er scheint sich auch dadurch zu schützen dass er vorgibt nicht zu den Hauptfiguren zu gehören. Jesus hält das abgetrennte Ohr in der einen Hand. Mit der anderen Hand hält er den Verletzten tröstend um die Schultern. Die Leute in Rüstungen und mit Waffen bedrängen die Gruppe im Vordergrund. Sie scheinen Recht und Ordnung zu vertreten. Es gibt eine klare Hierarchie – der Hauptmann, die Soldaten, der Knecht. Sie sind mit scharfen und verachtenden Blicken dargestellt.

Was mich beeindruckt in dieser Darstellung ist die Ausdruckskraft der Augen. Ich sehe die Besorgnis in der Augen des Petrus, die bedingungslose Liebe in den Augen des Jesus, der Schmerz in den Augen des Knechtes, die Scheinheiligkeit in den Augen des Judas, und die Verachtung und Überheblichkeit in den Augen der Soldaten. Doch am bemerkenswertesten scheint mir die Haltung Jesu: Er, der verraten wird, der verhaftet werden soll, blickt seinem Schicksal entgegen und bleibt seiner Grundeinstellung treu.

Er sieht in Judas, im Knecht, und in den Soldaten je einen Mitmenschen. Für mich ist das ein Ausdruck dessen, was George Fox beschrieben hat mit “dem von Gott in jedem Menschen”, die Präsenz des Göttlichen in allem – auch wenn es uns nicht immer offensichtlich scheint. Das Göttliche ist etwas Verbindendes – nicht etwas Trennendes. Im Bild ist das Trennende mehrfach dargestellt: Das abgetrennte Ohr; das Schwert das das Ohr abtrennte, aber auch die Haltung Petrus´ der im Moment nicht dazu steht, dass er sich zu den radikalen Lehren Jesu bekennt; die Rüstungen die die Soldaten von der übrigen Menschen unterscheiden und trennen; die Haltung Judas´ wo die Absicht und die Ausdrucksweise nicht zusammen gehen.

Jesus steht als zentrale Figur da: Er kümmert sich um den Schwachen und Verletzten, obwohl er selber bedrängt, verraten, und bedroht ist. Er weicht auch nicht zurück, weiterhin nach seinen Grundsätzen zu leben. Es ist einfach, sich am Palmsonntag für gute Ideen und Taten bejubeln und als Vorbild sehen zu lassen; es ist viel schwieriger konsequent zu sein, wenn die eigenen Überzeugungen und Handlungen kritisch hinterfragt und angefochten werden.

Hier noch die Textstelle aus der Bibel die in der oben stehenden Szene dargestellt ist:

Jesu Gefangennahme (Lukas 22:47-53)

47 Da er aber noch redete, siehe, da kam die Schar; und einer von den Zwölfen, genannt Judas, ging vor ihnen her und nahte sich zu Jesu, ihn zu küssen. 48 Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuß? 49 Da aber sahen, die um ihn waren, was da werden wollte, sprachen sie zu ihm: HERR, sollen wir mit dem Schwert drein schlagen? 50 Und einer aus ihnen schlug des Hohenpriesters Knecht und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. 51 Jesus aber antwortete und sprach: Lasset sie doch so machen! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.
52 Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die über ihn gekommen waren: Ihr seid, wie zu einem Mörder, mit Schwertern und mit Stangen ausgegangen. 53 Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt keine Hand an mich gelegt; aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

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Die weiteren Betrachtungen zu den zehn Szenen, die im Verlauf der Fastenzeit publiziert werden, können hier gefunden werden: Betrachtungen zur Fastenzeit

Hier ist noch der ganze Zyklus im Zusammenhang:

(photo credit: Foto-Kunst Andreas Keller, kirchen-online.org)

3 thoughts on “Betrachtung zur Fastenzeit #2

  1. Rolf Weinrich (Pfarrer für Valendas, Versam und Tenna) schreibt:
    “eine Ergänzung zu den Augen.
    Bemerkenswert ist, dass Judas als Mensch und nicht als Teufel dargestellt wurde.
    Das Böse wurde früher oft einäugig, bzw. im Profil dargestellt. Hier schauen sich aber Jesus und Judas ins Auge. Der Sünder, also der Gottesferne bleibt hier menschlich und wird nicht verdammt.”
    Besten Dank für diese Ergänzung.

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