Neue Gemeinschaften braucht das Land.

Wohngemeinschaft für den letzten Lebensabschnitt im Tenna Hospiz (photo credit: Ruben Weber)

for an English version, see below

Ich habe seit meinen Teenage Jahren ein Interesse am Leben in Gemeinschaft, aus spirituellen und politischen Gründen. Deshalb ist mir die Auseinandersetzung um die Weiterführung des Klosters Wonnenstein aufgefallen. Als fernab lebender Laie erkenne ich in diesem Spiel um Macht und Einfluss dieselben Mechanismen, die mich bewegt haben, 1979 aus der katholischen Landeskirche auszutreten: Eine Kirchgemeindeversammlung hörte sich an wie die GV einer Immobilienfirma.

Kathrin Klette stellt im Artikel “Die rebellische Nonne vom Kloster Wonnenstein” (NZZ, 23. April 2023) die Frage, welche Funktionen ein Kloster heute noch habe. Alle genannten Nutzungsvorschläge entspringen einer romantisierenden Vorstellung oder einer ausbeuterischen Absicht gegen die spirituellen Kräfte des Ortes. Und dem Geld verdienen. Klostergemeinschaften hatten zum Ziel – zum Wohle aller – Kraft aus dem Dialog mit dem Göttlichen zu schöpfen – nicht abzuschöpfen. Die assoziierten Missbräuche durch die Kirchen sind hinlänglich bekannt – vom Ablasshandel bis zur Gratisarbeit.

Ich bin weiterhin überzeugt, dass ein Leben in Gemeinschaft ein Lebensentwurf ist für die heutige Zeit. Eine kirchliche Institution braucht es dazu nicht. Etwas Glauben jedoch schon.

Dass dieser Wunsch gegenläufig ist zum Zeitgeist, zeigen die Schwierigkeiten für die Besetzung einer zivilgesellschaftlichen Wohn- und Arbeitsgemeinschaft für den letzten Lebensabschnitt im Safiental: Die Form (Idee) spricht viele an, doch das hyper-individualistische Leben im Überfluss eintauschen für eine sinnstiftende Beteiligung und für die Überwindung der eigenen existentiellen Einsamkeit kann sich kaum jemand aktiv vorstellen. 

Ich wünsche der verbleibenden Schwester ihren Weg mit Gott zu gehen – die Liegenschaften werden dann schon gewinnbringend verteilt. Allen andern wünsche ich den Mut, sich von der chronischen Affluenza zu befreien.

Als Leserbrief in der Print Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 28. April 2023 veröffentlicht

In English:

New Communities are Needed

I have had an interest in communal living since my teens, for spiritual and political reasons.That’s why the controversy over the continuation of the Wonnenstein monastery caught my attention. As a layman living far away, I recognize in this game of power and influence the same mechanisms that moved me to leave the national Catholic church in 1979: A parish meeting sounded like the AGM of a real estate company.

In the article “Die rebellische Nonne vom Kloster Wonnenstein” (NZZ, April 23, 2023), Kathrin Klette asks what functions a monastery still has today. All of the mentioned suggestions spring from a romanticizing notion or an exploitative intention against the spiritual forces of the place. And to make money. Monastic communities had as their goal – for the common good – to draw strength from a dialogue with the divine – not to siphon it off. The associated abuses by the churches are well known – from selling indulgences to unpaid labor.

I remain convinced that living in community is a way of life for today. A church institution is not needed for this. A little faith, however, is.

This wish is contrary to the zeitgeist. This is shown by the difficulties recruiting for of a civil-society initiative with a communal residence for the last phase of life in the Safiental (Switzerland): The form (idea) appeals to many, but hardly anyone can actively imagine to trade their hyper-individualistic life in abundance for a meaningful participation and for overcoming one’s own existential loneliness.

I wish the remaining sister at Wonnenstein to go her way with God – the real estate of her monastery will then readily be distributed for profit. To all others, I wish the courage to free themselves from chronic affluenza.

Gendergerechte Schreibweise

HosenscheisserInnen, BünzlibürgerInnen, KompromisslerInnen

…ein Untertitel aus einem auf einer mechanischen Schreibmaschine vor mir verfassten und getippten “Aufruf zur Gründung eines Friedenskollektivs” aus dem Jahr 1978 oder 1979.

Heute ist gendergerechte Schreibweise in aller Menschen Munde. Darum hat es mich interessiert, wie alt dieser Trend eigentlich schon ist. Wikipedia schreibt dazu folgendes:

“Ab den 1940ern verbreitete sich die Schreibweise mit Schrägstrich plus BindestrichLehrer/-innen. Im Rahmen der zweiten Frauenbewegung ab den 1960ern wurde der Schrägstrich verstärkt eingesetzt, um Frauen sichtbar zu machen, während allgemein noch der Gebrauch von rein männlichen Personenbezeichnungen zur geschlechtlichen Verallgemeinerung üblich war (generisches Maskulinumalle Lehrer).

Ab den späten 1970er-Jahren entwickelte die Feministische Linguistik das Konzept der „geschlechtergerechten Sprache“ und passende Formulierungsmöglichkeiten, um Frauen auch sprachlich gleich zu behandeln. […]

1981 war der Vorschlag aufgekommen, den Schrägstrich mit dem nachfolgenden kleinen „i“ zum Großbuchstaben „I“ zusammenzuziehen, als „Binnen-I“ bezeichnet: LehrerInnen. “

Das abgebildete Dokument zeigt Versuche einer inklusiveren Schreibweise als Teil des Friedensprozesses. Und wenn ich den ganzen Artikel lese, einhält dieser auch eine Skizze meines Lebensweges.

Eine wahrliche Trouvaille, die vierzig Jahre in einer Kiste auf meines Bruders Estrich lagerte!

Trouser-shitters, cocksuckers, compromisers

…a subtitle from a “Call for the Foundation of a Peace Collective” written and typed by me on a mechanical typewriter in 1978 or 1979.

Today, gender-sensitive writing is on everyone’s lips. That’s why I was interested to know how old this trend actually is. Wikipedia in German writes the following about it:

“Starting in the 1940s, the spelling with slash plus hyphen spread: Lehrer/-innen. In the context of the second women’s movement, starting in the 1960s, the slash was increasingly used to make women visible, while the use of purely masculine personal designations for gender generalization was still common (generic masculine: all teachers).

Beginning in the late 1970s, feminist linguistics developed the concept of “gender-equal language” and appropriate ways of phrasing it in order to treat women equally in terms of language as well. […]

By 1981, a proposal had emerged to combine the slash with the following lowercase “i” to form the uppercase “I,” referred to as the “internal I.” Teachers=LehrerInnen. “

The document pictured shows attempts at more inclusive spelling as part of the peace process. And when I read the whole article, it also includes a sketch of my life’s journey.

A true trouvaille, stored in a box in my brother’s attic for forty years!

Verschwende Deine Zeit nicht!

Verschwende Deine Zeit nicht!


Ich bin mit der Devise “Verschwende deine Zeit nicht” aufgewachsen. Meine Eltern legten grossen Wert darauf, dass ihre Kinder das Beste aus ihrer Zeit machen (und auf keinen Fall ihre Zeit verschwenden). Erst jetzt erkenne ich, dass diese Einstellung nicht etwas rein Nützliches war – ein Weg, um aus der Misere herauszukommen und nach oben zu kommen. Sie hat tatsächlich biblische Wurzeln:

Macht das Beste aus der Zeit, denn die Tage sind böse. Eph 5:16 (ESV)

for an English version of this article: don’t waste your time


Für die Generation meiner Eltern und Grosseltern schien es zu funktionieren, das Beste aus ihrer Zeit zu machen. Sie alle haben ihre Wurzeln in einem agrarischen Lebensstil, der Optionen im Leben grösstenteils ausschloss und mit einer gehörigen Portion Schwerstarbeit, Knechtschaft, Elend und Armut verbunden war. Aber sie überwanden diese Last und schufen sich eine weitaus komfortablere weltliche Existenz.

Meine Grossmutter väterlicherseits verliess das Rittergut in Sachsen, auf dem sie aufwuchs, mit 18 Jahren. Ihre Familie “gehörte” seit Generationen dorthin und arbeitete in der Landwirtschaft für die Familie von Schönberg, der das Gut seit dem 13. Jahrhundert besass. Die Besitzer wohnten im Schloss, während die Familie meiner Grossmutter und alle anderen Landarbeiter in und über den Scheunen und Ställen wohnten und sich den Platz und den Status mit den Zugpferden, Rindern und anderem Vieh eng teilten. Und obwohl sie die manuelle Arbeit für einen der wichtigsten Nahrungsmittelproduzenten der Region leisteten, kannten sie den Hunger nur zu gut. Das Vieh und die Feldfrüchte, die sie züchteten, waren nicht für die Ernährung der Arbeiter bestimmt, sondern sollten auf profitablen Märkten zu einem guten Preis verkauft werden. Die Arbeiter und ihre Familien durften die Felder nach der Ernte für den Eigenbedarf bewirtschaften. Die einzige Quelle für tierisches Eiweiss waren die Fischköpfe, die sie vom Fischhändler bekommen konnten, weil er keine andere Verwendung dafür hatte. Noch Jahrzehnte später konnte Oma einen herrlichen Fischkopfeintopf zubereiten – aber sie teilte ihn oft nicht mit ihrer Familie. Sie schämte sich wegen der Stigmatisierung: Menschen, die Fischköpfe essen, sind arm und möglicherweise faul. Hätten sie doch nur ihre Zeit besser genutzt…


Mein Grossvater mütterlicherseits hatte seine eigene Geschichte der Ausgrenzung. Er wuchs in einer Familie von Wanderarbeitern im Napfgebiet in der Schweiz auf. Die Heuböden der relativ wohlhabenden Bauern waren oft sein Zuhause. Schon in jungen Jahren wurden seine Zeit und sein handwerkliches Geschick von der Familie für das schlichte Überleben benötigt. Er war sehr geschickt und kenntnisreich in vielen bäuerlichen Arbeiten. Sieben Winter lang konnte er die Schule in Teilzeit besuchen, je nach Arbeitsanfall und Wetterbedingungen zwischen den abgelegenen Bauernhöfen und der kleinen Einraumschule. Er schloss die Schule schliesslich mit der vierten Klasse ab.

Aber alle meine Grosseltern konnten sich aus der bitteren Armut befreien und aus dem vorindustriellen Leben auf den Bauernhöfen in ein industrielles Leben aufsteigen. Beide Grossväter wurden Lastwagenfahrer mit der ersten Generation von motorisierten Fahrzeugen. Beide Grossmütter arbeiteten in der Gastronomie, bis sie heirateten und zu Hausmüttern wurden. Sie nutzten ihre Zeit sinnvoll, bildeten sich weiter und arbeiteten hart und sicherten sich so einen festen Arbeitsplatz, ein Einkommen und eine Rente. Sie zogen in die Stadt und konnten sich eine menschenwürdige Mietwohnung in einer Arbeiterwohnbaugenossenschaft leisten.

Sie haben den Glauben vorgelebt und weitergegeben, dass man es schaffen und aufsteigen kann, wenn man keine Zeit und Mühe verschwendet. Meine Eltern hatten die Möglichkeit, die Oberstufe abzuschliessen und einen Beruf zu erlernen, weil ihre Familien finanzielle Opfer brachten und hart arbeiteten. Mein Vater musste seine Ausbildung am Technikum fortsetzen und Abendkurse besuchen, während er Vollzeit arbeitete. Er wurde schliesslich Ingenieur und war die erste Person in der Familie, die einen Diplomabschluss hatte. Das ermöglichte meinen Eltern den Aufstieg in die Mittelschicht der Gesellschaft. Es ließ sie auch glauben, dass es für ihre Kinder kein Hindernis geben würde, es bis ganz nach oben zu schaffen: Reichtum, Ansehen und möglicherweise Ruhm waren in Sicht.

Was meine Eltern nicht wussten, war, dass die nächste Stufe der Aufwärtsmobilität in einer globalisierten Gesellschaft weitaus komplexer war als nur die bestmögliche Nutzung von Zeit und Mühe. Zeit wurde zu einer Ware, und nur wer seine Zeit kaufen konnte, hatte echte Chancen: Es reichte nicht mehr aus, hart zu arbeiten – jetzt war es erforderlich, sich zu vernetzen und Multitasking zu betreiben, sich an vielen Aktivitäten und Ursachen zu beteiligen, um voranzukommen (oder aufzusteigen). Ein einziges Einkommen reichte nicht mehr aus, um eine Familie zu versorgen, wohlhabend zu werden, Eigentum anzuhäufen und für die Zukunft vorzusorgen.

An diesem Punkt begann ich zu rebellieren und die zugrunde liegenden Annahmen über die Nutzung der Zeit in meinem Leben ernsthaft zu hinterfragen. Warum war es zwingend notwendig, die Zeit in Arbeitszeit (zunehmend), Familienzeit (abnehmend), Freizeit und Spass (wenn möglich) aufzuteilen? Warum war es nicht möglich, zu derselben Zeit und an demselben Ort zu lernen und zu arbeiten, an dem ich lebe und am Leben teilhabe, an dem ich mich amüsieren und gesund bleiben kann?

Alles ist eins – ich sehe das Leben immer noch als eine Einheit von Lieben, Arbeiten und Nachdenken.

Aber das heutige Leben ist immer mehr aufgeteilt, was nur möglich ist, wenn wir die Mittel haben und uns leisten können, schnell und effizient von einer Abteilung in die nächste zu wechseln – entweder durch Hetzen und Fahren von einer Sache zur nächsten oder heutzutage durch Multitasking mit einer ganzen Reihe von Gadgets: Es ist möglich, E-Mails zu checken und gleichzeitig zu telefonieren, während man zum nächsten gewünschten Termin fährt. Und wir kommen an einen Punkt, an dem es akzeptabel wird, Dinge unvollständig oder ungeschliffen zu lassen, weil wir alle wissen, dass die Zeit nicht ausreichen wird, um alles zu erledigen.

Wenn du keine Zeit hast, es richtig zu machen, wann wirst du dann Zeit haben, es noch einmal zu machen? (John Wooden)


Ich kann die Erschöpfung bereits spüren, während ich dies schreibe. Die Zeit optimal zu nutzen, hat eine Bedeutung und Intensität erreicht, die für die Generation unserer Eltern unvorstellbar war. Sprechen wir immer noch von demselben Zeitkonzept, das ich vorhin anhand eines biblischen Beispiels erwähnt habe?

Interessanterweise gibt es im Griechischen zwei verschiedene Begriffe, die routinemäßig mit Zeit übersetzt werden, nämlich Χρόνος (chronos) und καιρός (kairos). Ich wurde an diese Unterscheidung erinnert, als ich einen Artikel über die Askese der Zeit von James D. Whitehead las (Review for Religious, 39(1980), S. 3-17).

Chronos bezeichnet die Dauer, das Vergehen der Zeit, den chronologischen Verlauf und die Kontinuität von der Vergangenheit zur Gegenwart und in die Zukunft. Dies ist die Zeit, die wir gut kennen, die Zeit, die knapp wird, die abläuft und die verschwendet oder klug und effizient genutzt werden kann. Auf der anderen Seite gibt es den Kairos, die Zeit der Gelegenheit und des Anlasses – etwas, das wir in der Umgangssprache als den richtigen Zeitpunkt bezeichnen würden. Der richtige Zeitpunkt ist nicht messbar oder mit der Uhr bestimmbar. Er beruht auf einer Bedeutung, die tief in der persönlichen oder kollektiven Erfahrung und Spiritualität verankert ist.


Whitehead unterscheidet eine Triade von Lebens- und Erfahrungsweisen der Zeit: Er postuliert ein Kontinuum von Dissipation über Konzentration bis hin zu Zwang. Zerstreuung ist der Modus, den wir als Langeweile, als Plackerei der Zeit erleben. Sie charakterisiert Sinnlosigkeit und Richtungslosigkeit. “Das Leben geht weiter, oder es entgleitet, oder es wendet sich ab, aber es genießt keine besondere Energie oder Konzentration” (S.8). Die No-Future-Bewegung und -Generation verkörpert diesen Modus der Zeit auf dramatische Weise: Die Menschen wissen nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen und finden manchmal ein Ventil für ihre Energie in gewalttätigen Verhaltensweisen.

Das andere Extrem ist der Zwang, die zwanghafte Fokussierung: Dinge müssen erledigt werden, die Menschen fühlen sich getrieben, und bestimmte Unternehmungen absorbieren unsere ganze Aufmerksamkeit und vernachlässigen andere Aspekte unseres Lebens. Das ist die Vision, die meine Eltern für ihre Kinder hatten: es bis an die Spitze zu schaffen und anderen zu beweisen, dass ich etwas zustande bringen kann. Sie ist eingebettet in die postmoderne Verherrlichung der (ewigen) Jugend und die Angst vor dem Altern und Sterben. Sie ist auch in der Wirtschaftstheorie des ständigen Wachstums verankert. Die Menschen werden in ein Rattenrennen hineingezogen, bis sie zusammenbrechen.

Zwischen den beiden Extremen liegt der Modus der Konzentration als eine dritte Art von Zeit und Lebenserfahrung. Dies sind die Momente oder Perioden im Leben, in denen wir uns gegenwärtig fühlen und uns auf harmonische Beziehungen konzentrieren, einen Sinn in unserer Existenz und unseren täglichen Aktivitäten jenseits von Vergleich, Wettbewerb und Gewinn finden und Zeit haben, über das “Hiersein” nachzudenken und es zu schätzen.

Whitehead sieht Chronos in beiden Extremen des Spektrums am Werk, qualifiziert aber die konzentrierte Lebensweise als kairotisch – als heilige Zeit. Wann immer wir einen Moment im kairos erleben, erfahren wir ihn als Geschenk. Leider haben unsere Gesellschaft und Wirtschaft auch eine ganze Industrie hervorgebracht, die diese menschliche Sehnsucht nach Kairos-Erfahrungen ausnutzt, indem sie eine endlose Reihe von Ersatzprodukten verkauft, die unsere Bücherregale oder Terminkalender noch weiter füllen können.

Zeit ist das, was wir am meisten wollen, aber was wir am schlechtesten gebrauchen (William Penn, Vorwort zu Some Fruits of Solitude In Reflections And Maxims, 1693)


Diese Perversion der Zeit und ihrer Erfahrung als Mensch scheint sich in dem Zitat von William Penn widerzuspiegeln das auf die ständige Sehnsucht nach heiliger Zeit hinweist, während wir in Echtzeit agieren, sei es, indem wir Zeit verschwenden oder indem wir auf den unaufhörlichen Druck und die Erwartungen reagieren, die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik dem Leben auferlegen.

Kairos ist der Ausdruck von Zeit, in der wir als Menschen mit einer höheren Macht, mit Gott, verbunden sind. Wie ich in einem früheren Beitrag schrieb, muss und will ich die Fähigkeit erlernen, innezuhalten und zuzuhören. Diese Fähigkeit ist das, was Whitehead als Askese der Zeit beschreibt. Sie beginnt damit, dass wir uns Zeit nehmen, um darüber nachzudenken, wie wir unser tägliches Leben strukturieren, wie wir unsere Ziele und Bestrebungen im Leben festlegen. Wir müssen erkennen, dass leere Räume keine Zeitverschwendung sind, sondern eine Gelegenheit zum Gebet und zur Reflexion. Aber eine Askese der Zeit ist viel mehr als ein gutes Zeitmanagement, denn dabei geht es um die messbaren Qualitäten des Chronos. Es geht um die Erkenntnis, dass wir von der Führung abhängig sind, dass wir unbedeutende, aber wesentliche Teilchen in einem Universum sind. Es geht um die Erkenntnis, dass wir, wenn wir uns die Zeit nehmen, innezuhalten und zuzuhören, den richtigen Zeitpunkt kennen lernen, eine Gelegenheit, die manche als den Willen Gottes bezeichnen. Anstatt Dinge schnell zu tun, können wir jetzt lernen, sie richtig zu tun!

Auf diese Weise nutzen wir unsere Zeit am besten, und die Tage sind nicht mehr böse.

Ich denke immer noch über die Lebenserfahrung meiner Eltern und Grosseltern nach. Wie viel wussten sie über die Unterscheidung von Chronos und Kairos, darüber, weniger in den Extremen als auf dem Kontinuum zwischen Ausschweifung und Zwang zu leben? Unabhängig davon, ob sie sich dieser theoretischen Dinge bewusst waren oder nicht, haben sie mir einen Sinn für das Richtige vermittelt, den ich mit den Menschen um mich herum teilen und an die nächste Generation weitergeben möchte.

Don’t waste your time!

Vergeude deine Zeit nicht! Gedanken, die meinen heutigen Lebensweg vorzeichneten… #tennahospiz

OFRADIX

I was brought up with the mantra don’t waste your time. My parents were quite insistent that their children make the most of their time (and definitely not waste theirs). Only now do I realize that this attitude was not something purely utilitarian – a way to make it out of misery and to the top. It actually has biblical roots:

Make best use of the time, because the days are evil. Eph 5:16 (ESV)

For my parents’ and grandparents’ generation making most of their time seemed to have worked. They all have roots in an agrarian lifestyle – something that for the most part excluded options in life, and was equally associated with a good measure of back-breaking labour, servitude, misery and poverty. But they overcame the burden thereof and created for themselves a much more comfortable worldly existence.

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Ein Quäker quakt…

Ein Quäker quakt…

“Ob ein Quäker den ganzen Tag quakt” wurde ich heute in einer Pilgergaststätte im Schwarzwald gefragt.

Vielleicht schon – denn auch Quäker sind nur Menschen.

Ich hatte die Gelegenheit, am Treffen der deutsch-sprechenden Quäker mich auszutauschen über das Thema ‘Verbundenheit’. Womit fühle ich mich verbunden im Leben? Nach unten – im Sinne einer Verwurzeltheit; nach oben – mit dem Unsagbaren, dem Göttlichen? Oder in die Breite, im Sinne gelebter Gemeinschaft mit meinen Mitmenschen?

Quäkertum zeigt sich nicht in einem Glaubensbekenntnis, sondern im Bemühen, das eigene Leben entsprechend einer spirituellen Erfahrung des „Inneren Lichts“ zu leben. Glaube und Wirken sind untrennbar miteinander verbunden. Entsprechend der Aufforderung „Laßt euer Leben sprechen!“ predigen sie in der Welt nicht mit Worten. (quaeker.org)

Wie ich meinen Glauben im Alltag in Wirken umsetze, und wie ich in der Palliative Care Verbundenheit ausdrücken kann, habe ich im folgenden Artikel versucht zu beschreiben: Palliative Care als Gottes Dienst

Eine spirituelle Verbundenheit braucht kaum Worte, und deshalb ist es allenfalls das Ego, das quakt.

Skilled worker shortage vs. consecrated Life

Skilled worker shortage vs. consecrated Life

What is there against living a consecrated life in this day and age? Consecrated to life, not to a church organization.

I grew up and was socialized in a Christian environment. I acknowledge those roots of my experience, actions, and decision making as part being in this world. I acknowledge at the same time that Christian thought is one of various worldviews and images of God. This is because the divine is universal and manifests itself in every culture and can be perceived accordingly by all people – in a variety of ways.

It is also a core statement of my Quaker understanding of faith that the divine spark is present in every human being. The difficulty lies only in the openness and curiosity to want to recognize this spark.

Nor do I allow myself to be distracted by the currents of spiritual stretching exercises that are now recognized as substitutes for religion. Not by the arbitrariness of beliefs that seem like justifications of a particular way of life in a consumer society. Gospel of prosperity – endless loop of the search for meaning in retreats, workshops and pilgrimages around the globe – miracle cures through superfoods, body cult in Spandex, drugs and complementary therapies – short mindfulness session before the next cheer with bubbly drinks in the global casino!

I am drawn to the root, to radicality. Therefore, in this complex world, I have nothing better to do than to greet my roommates in the morning, change the wet pants, vacuum the staircase, explain the mailbox key for the seventeenth time – to manage everyday life together. To consecrate my life to life and to humanity. In this respect, I see myself as almost complicit in today’s much-vaunted shortage of skilled workers in our economy.

Of course, the academic qualifications and diplomas help me to move in this world and to create a simple life in it. Besides contemplation, my analytical thinking and a scientific approach enable me to deal with the abundance of information – also to separate the essential from the superfluous. To fade out stock prices, sports news, lifestyle recommendations in order to preserve the necessary calm and silence, which makes it possible for me to perceive the divine voice – these universal signs of the existential – to take them seriously and to implement them for an approach of a consecrated life in a secular society.

Fachkräftemangel vs. geweihtes Leben

Fachkräftemangel vs. geweihtes Leben

Was spricht dagegen in der heutigen Zeit ein geweihtes Leben zu führen? Geweiht dem Leben, nicht einer kirchlichen Organisation.

Ich bin in einem christlich geprägten Umfeld aufgewachsen und sozialisiert worden. Ich anerkenne diese Wurzeln meiner Erfahrung, meines Handelns und meiner Entscheidungsfindung als Teil von mir in dieser Welt. Ich anerkenne gleichzeitig, dass das christliche Gedankengut eine von verschiedenen Weltanschauungen und Gottesbilder ist. Denn das Göttliche ist universell und zeigt sich in jeder Kultur und kann entsprechend wahrgenommen werden von allen Menschen – in vielfältiger Art.

Es ist auch eine Kernaussage meines quäkerischen Glaubensverständnis, dass der göttliche Funke in jedem Menschen präsent ist. Die Schwierigkeit liegt einzig in der Offenheit und der Neugier, diesen Funken sehen zu wollen.

Ich lasse mich auch nicht ablenken von den Strömungen der spirituellen Streckübungen, die heute als Religionsersatz anerkannt werden. Nicht von der Beliebigkeit der Glaubenssätze, die wie Rechtfertigungen des jeweiligen Lebensentwurfes in der Konsumgesellschaft erscheinen. Wohlstandsevangelium – Endlossschlaufe der Sinnsuche in Retreats, Workshops und Pilgerreisen um den ganzen Globus – Wunderheilungen durch Superfoods, Körperkult in Spandex, Medikamente und komplementäre Therapien – kurze Achtsamkeitssession vor der nächsten Cüplirunde im globalen Casino!

Es zieht mich hin zur Wurzel, in die Radikalität. Deshalb habe ich in dieser komplexen Welt nichts besseres zu tun als meine Mitbewohner am Morgen zu begrüssen, die genässten Pants zu wechseln, das Treppenhaus zu saugen, zum siebzehnten Mal den Briefkastenschlüssel erklären – gemeinsam den Alltag zu bewältigen. Mein Leben dem Leben und der Mitmenschlichkeit zu weihen. Da sehe ich mich schon fast mitschuldig am heute vielbesungenen Fachkräftemangel in unserer Wirtschaft.

Natürlich helfen mir die akademischen Qualifikationen und Diplome mich in dieser Welt zu bewegen und ein einfaches Leben darin zu ermöglichen. Nebst der Kontemplation ermöglicht mein analytisches Denken und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mir mit der Fülle von Informationen umzugehen – auch das Wesentliche vom Überflüssigen zu trennen: Aktienkurse, Sportmeldungen, Lifestyleempfehlungen auszublenden um die notwenige Ruhe und Stille zu wahren, die es mir erst möglich macht, die göttliche Stimme – diese universellen Zeichen des Existentiellen – wahr zu nehmen, ernst zu nehmen und umzusetzen für einen Ansatz eines geweihten Lebens in einer säkularen Gesellschaft.

Fastenzeit – Zeit zum Reflektieren

Fastenzeit – Zeit zum Reflektieren

Krieg, soziale Ungerechtigkeiten, Gräueltaten… und was könnte das alles mit mir und meinem Sein-in-der-Welt zu tun haben. Ich habe anhand von zehn spätmittelalterlichen Bilder Impulse zur Betrachtung geschaffen. Vielleicht nimmst du dir auch ein paar Minuten in der verbleibenden Zeit bis zum Osterfest.

Ein Psalm – für alle die schreien wollen

Es ist Krieg – Ein ratloser Psalm

Dieser Psalm von Stefan Wahl stand am Anfang des Friedensgebetes am Samstag 26. Februar 2022 im Dom:

Aufgeschreckt bin ich, Ewiger, reibe mir zitternd die Augen,
ein Traum muss es sein, ein schrecklicher, ein Alptraum.


Entsetzt höre ich die Nachrichten, kann es nicht fassen,
Soldaten marschieren, kämpfen und sterben. Es ist Krieg.


Der Wahn eines Mächtigen treibt sie zu schändlichem Tun,
mit Lügen hat er sie aufgehetzt, mit dem Gift seiner Hassreden.


In den Kampf wirft er sie, missbraucht ihre Jugend, missbraucht ihre Kraft,
erobern sollen sie, töten sollen sie, sein Befehl ist eiskalt.


Seine Nachbarn hat er zu Feinden erklärt, ein Zerrbild gemalt,
in den dunkelsten Farben seiner wirren Machtphantasien.


Niemand wagt ihm zu widersprechen, seine Claquere halten still,
ein Marionettentheater umgibt ihn, das er höhnisch bespielt.


Seine Bosheit hat Raffinesse, listig und schamlos geht er voran,
die Versuche ihn umzustimmen ließ er ins Leere laufen,


umsonst sind sie angereist aus besorgten Ländern,
Friedensappelle und Warnungen ließen ihn kalt.


Angst und Schrecken verbreiten sich, blankes Entsetzen,
wie viele Verletzte wird es geben, wieviel Tote?


Wann wird die gefräßige Gier des Tyrannen gesättigt sein,
wann der Blutstrom versiegen, wann die Waffen schweigen?


Hilflos starre ich auf die Bilder und Meldungen,
meine Fäuste voll Wut, in meinen Augen regnet es.


Fahr den Kriegstreibern in die Parade, Ewiger. Allen!
Leg ihnen das Handwerk, lass sie straucheln und fallen.


Wecke den Mut und den Widerstand der Rückgrat-Starken,
lass das Volk sich erheben und die Verbrecher entlarven.


Nicht entmutigen lassen sollen sich alle, die an den Frieden glauben,
die unverdrossen ihre Stimme erheben, gegen Verführer immun sind.


Sei unter denen, die nicht schweigen, die nicht wegschauen,
die nicht achselzuckend sagen, was kann ich schon bewirken.


Höre unser Beten, unser Schreien, es töne in Deinen Ohren,
unsere Angst um die Welt unser Kinder und Kindeskinder.


Sie hast Du uns in die Hände gegeben, Deine Welt ist die unsrige,
In die die Hände fallen soll sie nicht den Machthungrigen ohne Gewissen.


Nie werde ich verstehen, warum Du dem allen nur zusiehst,
Deine Hand nicht eingreift und die Tyrannen zerschmettert.


Mach Dich gefasst auf meine zornigen Fragen, wenn wir uns sehen werden,
später, in diesem rätselhaften Danach, Deinem geheimnisumwobenen Himmel.


Dann will ich Antworten, will Erlösung und endgültigen Frieden,
jetzt aber will ich nicht aufgeben, zu tun was, ich tun kann,


damit wir jetzt und auch künftig den Namen verdienen,
den wir so selbstverständlich als unseren eigenen tragen,


und ehrlich und glaubwürdig und unverhärtet berührbar,
als menschlicher Mensch unter menschlichen Menschen leben.

From the Archives – aus dem Archiv

Graberix und der Kalkofen

Soweit die illustrierte Geschichte aus der Vergangenheit. Heute ist das Gebiet des Kalkofens grossflächig gesperrt. Der Klang der Hörner hat die ganze Gegend so unstabil gemacht, dass sie nun abzurutschen droht:

Der Gletscher schlägt zurück
Weil der Aletschgletscher schmilzt, rutscht der Berg in die Tiefe. Unterhalb der Moosfluh verschwinden Wege und ein alter Kalkofen in riesigen Spalten. Auch die Bahnstation ist tangiert.Stein um Stein verschwindet das Bauwerk im Inneren des Berges. Unter dem Kalkofen im Aletschwald klafft ein Riss in der Erde, der sich immer weiter öffnet und alles verschlingt: Steine, Arven, Wege. «Ich werde den Ofen nie mehr sehen», sagt der Biologe Laudo Albrecht. Der Walliser leitet das Pro-Natura-Zentrum Aletsch auf der nahen Riederfurka. (René Donzé, NZZamSonntag 23.10.2016)

Den Tod geben…

Eine sardische Tradition, die unsere Denkmuster herausfordert!

Ein historischer Holzhammer, als Werkzeug der “Femina Agabbadora” in Sardinien. (photo credit: Museo etnografico Galluras)

Das Museum des Euthanasie-Rituals auf Sardinien Sa femina accabadòra oder femina agabbadòra, sie ist buchstäblich diejenige, die endet. Das sardische Wort “accabbu”, d.h. “Ende”, ist ein Begriff von klarer spanischer Herkunft: “acabar” bedeutet wörtlich “auf den Kopf geben”.

Ein sehr klares Wort durch eine ebenso eloquente Geste: das Ende auf den Kopf zu setzen, ein Akt, der die Funktion dieser mysteriösen und emblematischen Figur unmissverständlich umreißt.

Sie wird in die Furche der Existenz, zwischen Leben und Tod gestellt, aufgrund eines Aspekts, der, gelinde gesagt, an allererster Stelle steht: Sie, die den Tod gab, gab auch das Leben, denn da sie existierte, half sie zu sterben, es gab gegen die Hebamme, die half, geboren zu werden. Und es war genau dieselbe Person. Dieser gegensätzliche und kontrastierende dualistische Aspekt von Leben und Tod würde ausreichen, um auf höfische Weise eines der umstrittensten und undurchdringlichsten Symbole unserer Vergangenheit zu unterscheiden; einer Vergangenheit, die nicht allzu weit zurückliegt.

Um diese Form der archaischen Euthanasie ist in letzter Zeit viel geschrieben und gesagt worden, es wurde viel über die soziale Rolle diskutiert, die dieses ambivalente Symbol hatte, über den Schleier des Schweigens und der Stille, der immer um seinen Namen schwebte, und über den Heiligenschein des Geheimnisses, der diese letzte tödliche Geste immer wieder umhüllte.

Die Grenze zwischen Leben und Tod ist sehr dünn, in dem Moment, in dem der müde und leidende Kranke auf seine Stunde wartet. Aber in all dem steckt etwas Tieferes, Intimeres, Wahrhaftigeres. Diese Frau, wohlgemerkt, hat nicht getötet, sondern den Tod gegeben.

In Luras gibt es einen erstaunlichen Ort, an dem neben vielen interessanten Funden aus der Kultur und Tradition Sardiniens der Hammer de sa femina agabbadòra aufbewahrt wird, das Werkzeug, mit dem dem sterbenden Patienten der begehrte Tod geschenkt wird. Pier Giacomo Pala, Besitzer des Galluras-Museums, in dem der berühmte Hammer aufbewahrt wird, hat dieser Figur dreißig Jahre lang Studien gewidmet und einen Band mit dem Titel – Eine Anthologie der Femina Agabbadora – verfasst, in dem er unter anderem erzählt, wie er diesen unglaublichen Fund entdeckt hat. Diese Geschichte ist vor allem die Geschichte einer jahrelangen, zähen und mühsamen Recherche und einer unglaublichen und unerwarteten Entdeckung. “Ich habe lange, vielleicht zu lange, auf jemanden gewartet, der mir bei der Transkription, Bestellung und Pflege der Materialsammlung hilft, die ich im Laufe der Jahre über die Femina agabbadora finden konnte. Ich wandte mich an Gelehrte und Schriftsteller, aber wenn die Idee nicht von ihnen kam, wurde alles schwieriger oder einfacher, tatsächlich half mir keiner von ihnen”.

aus dem Italienischen übersetzt mit Hilfe von DeepL. Mehr zur Geschichte im Originalartikel:

http://www.sandalyon.eu/ita/articoli/archivio/musei-di-sardegna/lultimo-martello-de-sa-femina-agabbadora__153.html

Kapitalismus ist Religion

Eine leere…

Gedanken von Giorgio Agamben, die wir uns leisten dürfen: Woran glauben wir?

“Geld ist ein Kredit, der nur auf sich selbst beruht und nichts anderem als sich selbst entspricht.”

Als eine solche Religion der Moderne ist sie durch drei Grundzüge bestimmt:

1. Sie ist eine Kultreligion, vielleicht die extremste und absoluteste, die es je gegeben hat. Alles darin hat nur Bedeutung in Bezug auf die Erfüllung eines Kultes, nicht in Bezug auf ein Dogma oder eine Idee.

2. Dieser Kult ist permanent, «die Zelebrierung eines Kultus sans trêve et sans merci», ohne Rast und ohne Gnade. Darin lässt sich nicht zwischen Festtagen und Arbeitstagen unterscheiden, sondern hier ist ein einziger, ununterbrochener Fest- und Arbeitstag, an dem die Arbeit mit der Feier des Kultes zusammenfällt.

3. Der kapitalistische Kult ist nicht auf die Erlösung oder Sühne für eine Schuld ausgerichtet, sondern auf die Schuld selbst. «Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus [. . .] Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiss, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen»

Lesenswert. Und wir dürfen uns auch Gedanken darüber machen, worauf wir uns beziehen sollen im Leben, in unseren Kulten!

Giorgio Agamben: Der Kapitalismus ist eine leere Religion. NZZ, 21. 06. 2020

Capitalism is religion
An empty one…

thoughts of Giorgio Agamben that we can afford: What do we believe in?

“Money is a loan based on nothing but itself.”

As a religion of modernity, it is defined by three basic tenets:

  1. it is a cult religion, perhaps the most extreme and absolute ever. Everything in it has meaning only in terms of the fulfillment of a cult, not in terms of a dogma or an idea.
  2. This cult is permanent, “the celebration of a cult sans trêve et sans merci”, without rest or mercy. In it, no distinction can be made between holidays and working days, but here there is a single, uninterrupted day of celebration and work, on which work coincides with the celebration of the cult.
  3. The capitalist cult is not directed towards redemption or atonement for a guilt, but towards the guilt itself. “Capitalism is probably the first case of a cult that does not expiate, but rather is guilty […] An enormous consciousness of guilt that does not know how to expiate resorts to the cult in order not to expiate this guilt, but to make it universal”.

Worth reading. And we may also think about what we should relate to in life, in our cults!

Schwierige Entscheidungen – selber entscheiden

In Zeiten der Pandemie ist es genau so wichtig wie an jedem normalen Tag, dass jeder Mensch sich im Klaren ist, was er oder sie möchte, falls sie oder er nicht mehr fähig sein wird, selber zu entscheiden. Aus meiner Erfahrung – und ich hatte das während mehrerer Jahre selber praktiziert – schieben viele das Erstellen einer Patientenverfügung und eines Vorsorgeauftrags stetig vor sich her.

Das Wichtigste am Erstellen einer Patientenverfügung und eines Vorsorgeauftrages ist, dass wir uns in guten Zeiten überlegen, was einem persönlich wichtig ist im Leben. Genau so wichtig ist, dass man diese Gedanken und Überlegungen teilt mit den Menschen, denen man vertraut. 

Am Tag, wo wir betroffen werden von ersthafter Krankheit, Gebrechlichkeit oder einem Unfall, kann es zu spät sein, seinen eigenen Willen zu äussern. Deshalb sieht unser Gesetz vor, dass wir vorsorglich festhalten können, was uns wichtig ist und wie gewisse Fragen entschieden werden sollen, falls wir selber nicht mehr fähig sind dazu.

Die Medien sind derzeit voll von Berichten über Menschen, die in kürzester Zeit von leichten Grippesymptomen befallen eine schwere Lungenentzündung und Komplikationen entwickeln. Sie landen auf einer Intensivstation, werden sediert und mit intensivster medizinischer und technischer Unterstützung, Gesicht nach unten und isoliert von allen vertrauten menschlichen Kontakten behandelt. Diese Menschen haben keine Mitsprache mehr. Sie werden gelebt bis sie gesunden oder sterben.

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lebensrettende Intensivbehandlung im Spital (Bild via NZZ)

In einer Patientenverfügung können Menschen zum voraus bestimmen, ob sie im Falle eines solchen Krankheitsverlaufs bestimmte medizinische und technische Mittel in Anspruch nehmen wollen, falls sie nicht mehr bewusst entscheidungsfähig sein werden. Sie können auch bestimmen, dass sie in einer derart kritischen Situation beste Palliativmedizin in Anspruch nehmen wollen. Aus beiden Gruppen werden die einen weiter leben, andere sterben.

In einer Patientenverfügung können Menschen auch bestimmen, was ihnen wichtig ist. Mir ist es wichtig, dass ich jemanden in einer kritischen Situation zu meiner Seite habe. Das heisst während der Pandemie, dass ich keine Spitalbehandlung in Anspruch nehmen will, weil dort Besucher ausgeschlossen sind. Das heisst, dass ich durch den Hausarzt und die ambulanten Dienste medizinisch betreut werden will und so meinem Willen entsprechend umsorgt werden kann bis ich genese oder sterbe. 

Die Entscheidung über Leben oder Tod liegt sowieso nicht in der Kompetenz von Fachleuten und Institutionen. Das entscheidet das Leben, das aus meiner Sicht in einem göttlichen Grossen Ganzen eingebettet ist.

Mit dem Vorsorgeauftrag kann ich in guten Zeiten bestimmen, welche Person oder welche Personen für mich weiter Entscheidungen treffen, falls ich dazu nicht mehr in der Lage sein werde. Wenn ich sediert an einer Maschine hänge, müssen weiterhin Rechnungen bezahlt (Vermögenssorge), allenfalls Verträge abgeschlossen (Rechtsverkehr) werden. Und jemand wird zuständig sein müssen für die Fürsorge in persönlichen Angelegenheiten des Betroffenen. Dazu gehört auch die Gesundheitssorge sowie Hilfestellungen im Alltag.

Wer dafür in guten Zeiten für die Finanzsorge und den Rechtsverkehr eine Vollmacht erstellt hat, kann sich vorerst entspannen. Diese bleibt rechtskräftig bis zum Tod (oder bis zur Urteilsunfähigkeit). Ein klar formulierter Vorsorgeauftrag oder eine rechtsgültige Vollmacht über den Tod hinaus können verhindern, dass Behörden durch die KESB entsprechende Massnahmen ergreifen.

Es ist wichtig und richtig, dass wir uns im Klaren werden, was wir möchten. Und es ist notwenig, dass wir das im Dialog mit Menschen unseres Vertrauens teilen. Und es ist notwenig, dass wir das in einer Form festhalten, die auch von Institutionen akzeptiert ist und eingefordert werden kann.

Im Anbetracht der beschränkten Kapazitäten und Kräfte in Zeiten der Pandemie ist es umso wichtiger, schwierige Entscheidungen rechtzeitig selber zu entscheiden. Das zeigt auch die soeben ergänzten Richtlinien für ärztliches Personal, das oft in kritischen Situationen mit schwerwiegenden Entscheidungen auf sich selbst gestellt bleibt.

“Die SAMW (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften) betont, es sei wichtig, mit allen Patienten, die dazu in der Lage seien, deren Willen für allfällige Komplikationen zu klären.  Konkret heisst das, dass jede und jeder von uns sich schon jetzt Gedanken darüber machen müsste, welche Behandlung im Ernstfall und bei knappen Ressourcen noch durchgeführt werden soll. Etwa, ob reanimiert oder künstlich beatmet werden soll. Verzichten die Ärzte im Rahmen einer Triage auf intensivmedizinische Massnahmen, so muss eine umfassende palliative Pflege gewährleistet sein. Auch das hält die SAMW-Richtlinie ausdrücklich fest. “ NZZ, 21. 03. 2020

Lassen sie sich beraten, schieben sie die wertvollen Überlegungen und Diskussionen mit sich selbst und den Menschen, denen sie vertrauen, nicht weiter auf. Auch der Verein Tenna Hospiz (tennahospiz.ch) ist bereit, Menschen in seinem Umfeld zu beraten und mit ihnen die gewünschten Formulierungen von Patientenverfügung und Vorsorgeauftrag zu finden. Kontaktieren sie uns.