“Irren ist menschlich” – viele (gläubige) Leute sind sich heute wohl kaum bewusst, dass sie sich kräftig dieser menschlichen Qualität zuwenden, wenn sie sich als lebenslange spirituelle Sucher auf dem Weg verstehen. Bei den Quäkern hat sich eine Vorstellung des “absoluten Vielleicht” eingebürgert. Es ist ein Ausdruck dafür, dass sich Gott fortwährend offenbart und dass wir als Menschen nie genau oder abschliessend wissen können, wo die Wahrheit liegt – denn Gott wird uns noch mehr offenbaren. So wie dies über Jahrtausende seit der biblischen Zeit geschehen ist.
Diese theologische Grundhaltung der fortwährenden Offenbarung wird heute allzu oft als Legitimation für Beliebigkeit gebraucht. Es gibt einige Quäker, die nicht formulieren können, was ihre Glaubensgrundlagen sind und daher gerne darüber schweigen (unter dem Schutze einer liturgischen Form). Ihnen genügt ein Gottesbild das unklar und verschwommen ist, eben als Wahrheit im Bereich des “absoluten Vielleicht” gilt – weil wir als Menschen die ganze Wahrheit gar nie wissen könnten. “Wir sind nicht Quäker, wir werden es” ist ihre Rechtfertigung.
Wie hat es sich denn mit erfahrenen und erkannten (Teil)Wahrheiten auf sich? Gibt es Offenbarungen in der Geschichte der Menschheit, oder in meiner eigenen Erfahrung, die als Wahrheit bestehen können, auch wenn ich akzeptiere dass es eine Vielfalt von Meinungen gibt, die berechtigt sind? Auch wenn ich akzeptiere dass es nicht eine absolute Form von Religion oder Glaube an Gott gibt, sondern eine Vielzahl kulturell geprägter Gottesvorstellungen und Religionsausübungen? Ist eine friedfertige Haltung und liebevoller Umgang mit den Nächsten im Leben abhängig von Situationen, Umständen, gar kulturellen, sozialen, und politischen Einflüssen?
Da stellt sich die Frage: Wollen wir uns als selbstbestimmte, moderne Menschen bedingungslos finden lassen vom Göttlichen? Oder gefällt uns die liberale Einstellung des spirituell Suchenden? Wer steht denn der Offenbarung des Willen Gottes näher: Der Mensch der die Offenheit hat sich finden zu lassen, oder derjenige, der ewig auf der Suche nach Wahrheit ist?
Entziehen wir uns mit der Einstellung des “absoluten Vielleicht” nicht einfach der Verantwortung, und damit der Angriffsfläche, unseren Glauben zu bezeugen und nach klaren Glaubensgrundsätzen unser irdisches Leben zu leben? Oder warten wir – mit der Mehrheit der Gläubigen vor allem in der abrahamischen Tradition – auf das jüngste Gericht, in der Hoffnung dass das Reich Gottes auch für uns kommen wird durch irgendwelchen Akt der göttlichen Barmherzigkeit und Vergebung für das bequeme und selbstgefällige menschliche Irren, auf das wir uns oft verlassen und das wir heute als Teil unseres Glaubens akzeptieren.
Gott, lass mich als Mensch da irren, wo es menschlich ist! Es gibt genug Situationen im Alltag, wo ich nicht richtig einschätzen kann welche Entscheidung oder welche Reaktion ich treffen muss. So werde ich ohne Schirm im Regen stehen, mit einem ungeeigneten Geschenk bei einem Treffen erscheinen, oder mich für eine Position, für die ich nicht gemeint wurde, bewerben. Da darf ich mich irren. In der Vielfalt der Situationen kann ich aus der selben, liebenden und zuversichtlichen religiösen Grundhaltung heraus gehandelt haben.
Andererseits, will ich mich zum Beispiel nicht für Sterbehilfe einsetzen, auch wenn es legal ist, auch wenn diese medizinische Möglichkeit ein ausgesprochenes Bedürfnis vieler progressiver Menschen ist, und es auch gesellschaftlich akzeptabel wird. Heutzutage wird die Versuchung gross, ein klares Gottesbild und Glaubensverständnis dem menschlichen Irren preis zu geben und sich damit zu rechtfertigen, dass wir nie die ganze Wahrheit wissen können.
Ebenso gross wird die Versuchung, auf Grund von fundamentalen Erkenntnissen und Glaubensgrundlagen diejenigen zu werten und zu verurteilen, die sich für das “absolute Vielleicht” oder eine soziale, politische oder wirtschaftliche Rechtfertigung entscheiden.
Damit würde ich wiederum als Mensch irren, denn ein solches Urteil steht mir nicht zu!