Über Flüssiges und Überflüssiges

Während einer kürzlich abgehaltenen Retraite zum Thema Spiritualität von John Woolman bezeugten verschiedene Freunde, dass es erstaunlich sei wie aktuell die Grundanliegen, die Woolman vor 250 Jahren vorbrachte, heute noch sind. Oberflächlich betrachtet scheint das unwahrscheinlich, denn wir müssen uns nicht mehr mit Slavenverkauf, Postkutschen, oder Knöpfen als Überflüssigkeiten an Kleidern auseinander setzen. Doch die Thematiken des Umgangs mit den Menschen, vor allem denen die nicht sind wie wir, und des Umgangs mit unseren Angelegenheiten und Geschäften sind nach wie vor höchst aktuell.

Als ein Kind der Sechziger Jahre bin ich mir gewohnt, Probleme und Ungerechtigkeiten zu sehen, an zu prangern und nach Lösungen zu rufen. Ich war mit meiner Generation schockiert über die Zeugnisse von Gewaltanwendung aus Biafra, die Verknappung der Energiereserven, die fortschreitende Verschmutzung der Umwelt. Die Missstände machten uns betroffen und wir suchten eifrig nach Lösungen um die Katastrophen ab zu wenden, die unsere privilegierten Lebensweisen zu bedrohen schienen. Wir sammelten für Hilfswerke, reisten mit dem Zug von einer Versammlung zur andern, und erstanden viele unserer Konsumgüter aus biologischen Anbau oder alternativen Marktkanälen.

photo credit: Jessica Jonkers
photo credit: Jessica Jonker

Doch was mir immer wieder auffällt ist, dass diese Handlungen am Ende zu einem Katz und Maus Spiel mit den grossen Korporationen führte: Ich sagte vor dreissig Jahren voraus, das seines Tages unsere Grossverteiler die handgestrickten Bioläden überflüssig machen würden weil sie mit ihrer Dominanz im Markt den Konsumenten eine bessere Welt zum besseren Preis vortäuschen können. John Woolman würde sich entsetzen wenn er sich mit ansehen müsste, wie die verschwenderischen Konsumgewohnheiten nun kritikresistent wurden dadurch, dass die Produkte Bio, Fairtrade, und Klima neutral zertifiziert werden. Auch die meisten alternativen Hersteller und Vermarkter handeln fast ausschliesslich mit Überflüssigem und kompensieren unausweichlicher Energieverschleiss und Transportleistungen mit Treibhausgaskrediten.

Leider ist es so, dass das Elementare, das heisst zum Beispiel die Grundnahrungsmittel, wenig Wertschätzung und wenig Wertschöpfung bringen. In der heutigen Gesellschaft, auch in Kreisen die sich als fortschrittlich, gesundheits- und umweltbewusst bezeichnen, sind Abwechslung und Annehmlichkeit nicht hinterfragte Realitäten. Ein reichhaltiges Angebot und Auswahl sind wichtig um sich “richtig” zu ernähren. Und es gibt viele Produkte zum fertigen Gebrauch die einem helfen das Leben vereinfachen oder die zeitsparend sind und damit scheinbar unsere komplexen Lebensweisen unterstützen. Unsere extremen Privilegien täuschen uns vor dass wir einen unwiderruflichen Anspruch haben auf diese Überflüssigkeiten.

In den Gesprächen unter den Teilnehmern der Retraite wurden verschiedene Ideen und Erkenntnisse aus eigener Erfahrung ausgetauscht. Die Teilnehmer waren sich einig, dass die Konsumgesellschaft insgesamt nicht nachhaltig ist und dass jeder Einzelne Entscheide treffen kann um seinen Glauben an eine bessere Welt um zu setzen. Die Diskussion verlief sich in den Vor- und Nachteilen eines bestimmten Labels oder Produktes. Doch es ist mir auch aufgefallen, dass sich viele dieser Aktionen zu tiefst widersprechen. Zum Beispiel wurde das Konsumverhalten “wenn ich etwas anderes tragen möchte” damit gerechtfertig, dass entweder second hand oder von einem wohl beurteilten Verteiler eingekauft wird. So wie ich John Woolman verstehe, hätte er sich geweigert überhaupt nur in Betracht zu ziehen, dass er einfach etwas anderes tragen möchte.

Also bleibt die Frage nach dem Überflüssigen. Eine Frage, die in den heutigen Diskussionen nicht selbstverständlich ist und, wenn überhaupt angesprochen, mit einer rhetorisch überzeugenden Rechtfertigung jeder einzelnen Handlung gekontert oder verharmlost wird. Das heisst, das Denken ist schon derart von der Hyperindividualisierung und Zersplitterung des Lebens beeinflusst, dass nur noch die konkreten Einzelschritte betrachtet werden (z.B. „Diese Havelaar Bio Mango ist doch im Angebot, voller Vitamine, und schafft Arbeitsplätze in einem Entwicklungsland“). Dies ist auch eine Form von Einfachheit. Nur leider sind die Lebenszusammenhänge so komplex, das diese Strategie nicht kongruent ist um ihnen gerecht zu werden.

Denn auch ein Kleidungsstück, das ich in Zweitverwendung trage, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit von Menschen hergestellt worden, die im besten Fall einen geringen Lohn beziehen und nicht annähernd dieselben Privilegien im Leben beanspruchen können wie ich. Selbst innerhalb der Schweiz sind sämtliche Dienstleistung und Produkte, und vor allem jegliche Preisvorteile, nur realisierbar durch Billiglöhne, nicht-selbstbestimmte Arbeitsbedingungen und prekäre Sozialleistungen.

Doch die materiellen Aspekte sind wohl die durchschaubarsten in der heutigen Welt. Wirklich undurchsichtig wird die Diskussion um Gerechtigkeit, Transparenz, und Überflüssigkeiten in der abstrakten Welt der Finanzen. Eine Transaktion, die zu Woolmans Zeiten ein direkter Austausch war, löst heute eine Kaskade aus in die unzählige unsichtbare Akteure und Profiteure beteiligt sind. Und jeder Einzelne ist in dieses System verstrickt durch Sparanlagen, Vorsorgepläne, Versicherungen, und der Erwartung das hart verdiente und notwendige Geld nicht zu verlieren.

Wildheu3So wünsche ich mir die Kraft, meinem Unwohlsein, der Bürde der kollektiven Ungerechtigkeiten die ich als stete Last auf meinen Schultern spüre, mit einer Radikalität der Spiritualität John Woolmans zu begegnen. Erst möchte ich die Überflüssigkeiten erkennen und eliminieren. Danach macht es Sinn für mich, die sozial- und umweltverträglichste Variante des Wesentlichen an zu streben. Ich bin mir bewusst, dass dies kein linearer Prozess ist, und dass dieses Streben nicht möglich ist ohne liebgewonnen Gewohnheiten und Privilegien auf zu geben oder die Konsequenzen dieser Geisteshaltung und mystischen Erfahrung von Einssein am eigenen Leib zu spüren. Ich brauche die Erinnerung an unseren Ursprung, den göttlichen Funken in uns allen, der auch mir Handlungskompetenz gibt, denn „es ist eine Übung zu sehen, wie Gott sieht, die Wahrnehmung dessen, was klein ist und unwichtig“ (Sölle).

Spirituell ist es für mich auch wichtig diese Radikalität zu suchen. Theologisch gesehen kann ich in einer Zwischenzeit leben und warten bis die Erlösung (oder der Erlöser wieder-) kommt. Doch ich suche vermehrt nach einem Erlebnis entsprechend der innerlichen Wiederkunft Christi (inward second coming). Diese Vorstellung, dass das Reich Gottes schon hier auf Erden möglich sei, haben John Woolman und viele frühe Quäker wohl verstanden und entsprechend danach gehandelt.

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Hier gibt es zusätzliche Ausführungen zum Thema: 10 komplexe Weisen ein einfach(er)es Leben zu führen

An English version of this blog entry can be found here: On Business in Superfluities and the Influence of Bad Examples.

Für eine weitergehende Vertiefung in die Vorstellungen einer innerlichen Wiederkunft, empfehle ich die Ausführungen (auf englisch) von Ben Pink Dandelion in diesen Vortrag: The End of the World – part 1.

Eine Übertragung ins deutsche finden sie hier: Vom Ende der Welt… und was danach geschah.

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