Ein ungewöhnlicher Blickwinkel.
In einer säkularisierten und wissenschafts-orientierten Gesellschaft scheint es eher ungewohnt, im Zusammenhang mit einer gut definierten Fachdisziplin, das Wort Gott in den Mund zu nehmen. Aus meiner Erfahrung mit Menschen, die ich im Leben und im Sterben begleiten durfte, möchte ich es trotzdem wagen, einen solch provokativen Blickwinkel als Ausgangspunkt für einige Gedanken zu nutzen.
An English version of the article can be read here: Palliative Care as form of worship?
Palliative Care ist eine junge, heute anerkannte medizinische Spezialität, die sich rühmt fach-übergreifend zu arbeiten und die umfassenden Bedürfnisse des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. Warum denn müssen diese Aspekte, die einem einfachen und betroffenen Menschen doch völlig selbstverständlich erscheinen, so hervor gehoben werden? Lässt sich daraus zurück schliessen, dass die anderen medizinischen Spezialitäten zu speziell sind um sich mit interprofessioneller Zusammenarbeit ab zu geben? Sind diese so weit korrumpiert als System und innerhalb der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen (Macht-)Diskursen unserer Zeit, dass die Bedürfnisse des einzelnen Menschen, der Behandlung sucht oder braucht, nicht an erster Stelle stehen?
*Gott* ist eine universelle, spirituelle menschliche Erfahrung, die nicht abhängig ist von einer religiösen Prägung oder Kirchenzugehörigkeit. Ich kenne überzeugte Atheisten in meinem Freundeskreis, die anerkennen, dass sie in ihrem Leben *Gott* direkt erfahren konnten! Das Menschenbild eines jeden Einzelnen ist eng verbunden mit dem bewusst oder unterbewusst gehaltenen Gottesbild. Und das steht doch in starkem Kontrast zur medizinisch-wissenschaftlichen Sichtweise: In meinem Studium der Pflegewissenschaften hiess der Grundlagentext für das Verständnis des zukünftigen Klienten “Form und Funktion” – darin war autoritativ dargestellt wie der menschliche Organismus aufgebaut ist und wie der zu funktionieren hat.
In kritischen Momenten der pflegerischen Arbeit wird mir immer wieder verdeutlicht, dass sich Menschen nicht als Zusammenspiel von “Form und Funktion” verstehen. Selbst Menschen mit katastrophaler Diagnose und offensichtlicher Beeinträchtigung durch Krankheit können sich als gesund und ganz sehen und beschreiben. Andere fühlen sich krank und leiden, obwohl bei ihnen medizinisch gesehen alles optimal geformt ist und funktioniert. Daraus schliesse ich, dass ein einzigartiges Menschen-, und damit verbundenes Gottesbild, viel näher, wichtiger und prägnanter ist im Selbstverständnis der Menschen, denen wir in unserer Arbeit im Gesundheitswesen begegnen, als die wissenschaftlich-exakten Grundlagen von Physiologie und Pathologie.
Deshalb finde ich es anstossend und ungerecht, wenn wir von Krebspatienten, von unheilbar- oder schwerkranken, beeinträchtigten Klienten, oder gar von aus-therapierten und hoffnungslosen Fällen, von medizinischen Problemen und funktionalen Defiziten, und in ähnlichem, gut dokumentiertem Fachjargon sprechen. Mit welcher wertenden Vermessenheit beschreiben wir oft den fortlaufenden Sterbeprozess eines Menschen als eine Verschlechterung seines Allgemeinzustandes?
“Die WHO definiert Palliative Care so: Palliative Care entspricht einer
Haltung und Behandlung, welche die Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen verbessern soll, wenn eine lebensbedrohliche Krankheit
vorliegt. Sie erreicht dies, indem sie Schmerzen und andere physische,
psychosoziale und spirituelle Probleme frühzeitig und aktiv sucht, immer wieder erfasst und angemessen behandelt.” (Gesundheitsamt Graubünden;
http://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/djsg/ga/dienstleistungen/InstitutionenGesundeitswesens/palliativecare/Seiten/default.aspx)
Das sind Einschätzungen eines Mitmenschen von der hohen Warte eines dominierenden Machtgefälles aus. Dass diese einseitigen Beurteilungen nicht immer der ganzen Wahrheit entsprechen, habe ich selber erlebt: Mein Leben ist Zeugnis für ungeahnte Möglichkeiten nachdem ich als 24-jähriger Herzpatient mit irreversible Defiziten und bleibenden Einschränkungen aus ärztlicher Behandlung entlassen wurde. Ich habe der wissenschaftlich korrekten Fachmeinung nie Bedeutung zugemessen und einfach ein Leben gelebt, das im Wesentlichen meinen Bedürfnissen gerecht wird mit den Gaben die ich habe!
In existenziellen Momenten, wie sie vermehrt in kritischen Situationen oder Todesnähe wahr genommen werden, erleben sich Menschen viel mehr als Eins; eine Einheit die auch Krankheitsbilder und Sterbeprozesse mit einschliesst. Das Individuum, als Verkörperung des Egos, erhält eine Erfahrung, die viel grösser, universeller ist: der Mensch taucht ein in den Urgrund seiner Existenz und kann diese Einheit auch wahrnehmen. Es gibt verschiedenste spirituelle und wissenschaftliche Stimmen (z.B. Meister Eckhardt, C.G. Jung), die postulieren, dass eine bewusste Trennung (z.B. Individualität, Kampf gegen Alter, Krankheit und Tod) von dieser Einheit, oder eine Verdrängung des göttlichen Kerns im Menschen (des Selbst), der Angelpunkt sei zwischen der Erfahrung von Gesundsein und dem Erleben von Krankheit, ungeachtet der jeweiligen physiologischen Konstitution.

Palliative Care als Gottes Dienst – in dem Sinne, dass wir uns als Praktikerinnen und Praktiker dem Menschen in erster Linie als Verkörperung eines göttlichen Funkens und eines einzigartigen Mitbestandteils des Grossen Ganzen nähern. Damit können wir gar nicht anders, als unsere Praxis an den Bedürfnissen des Einzelnen, des Betroffenen, zu orientieren. Ich setze dennoch hochmodernes Gerät und evidenz-basierte Therapiemittel ein; und ich wende weiterhin wissenschaftliche Theorien der Chemie, Biologie, Physik und Medizin an in meiner Entscheidungsfindung am Bettrand. Das gelingt mir auch, während dem ich menschliche Geborgenheit vermittle durch das Halten einer Hand – als Ausdruck von zwischenmenschlicher Verbundenheit und als eigene Erinnerung an die Würde der Menschlichkeit meines Gegenübers (verkörperte Gnade Gottes). Oder, wenn ich im Schweigen zusammen mit den pflegenden Angehörigen verbleibe, um dem Ausdruck von halluzinierenden Wahrnehmungen aus Zwischenwelten zu lauschen.
Ich lasse meinen Dienst in Palliative Care nicht dominieren von der selbstherrlichen Wichtigkeit, die den Wissenschaften anhaftet. Und schon gar nicht vom noch dominanteren Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsdenken, mit dem wir uns heute systematisch quälen (Leistungsansprüche, Kostengutsprachen, und Abrechnungstarife).
Somit kann ich Palliative Care leben aus einer Haltung der Nächstenliebe, was ja nicht nur im christlichen Glauben eine der höchsten, *Gott*-definierenden Qualitäten ist. Palliative Care als Gottes Dienst, eine Grundhaltung die es dem Menschen schliesslich ermöglicht, vom Anfang bis zuletzt in Würde zu leben und in Frieden sterben zu dürfen.

Dieser Artikel wurde veröffentlicht in der Zeitschrift “palliative ch” der Schweizerischen Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung 03/2017. Artikel palliative.ch , wo sie auch eine französische und italienische Übersetzung lesen können (Même disponible en Français; anche disponibile in Italiano).
Eine weitere Abhandlung zum Thema Gesundheit: Gesundheitswahn – ein Krieg gegen die Ganzheit
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